MAX STILLER
WAS TUST DU, WENN DU ALLES WAS DAS LEBEN BIETET SCHON GEHABT HAST ODER HABEN KÖNNTEST ...
DU SCHAFFST DIR ETWAS NEUES ...
ETWAS DAS DIE VORSTELLUNGSKRAFT ALLER ANDEREN ÜBERSTEIGT ...
ETWAS BEI DEM ES KEIN ZURÜCK MEHR GIBT ...
München 2018 ... an einem kalten Wintermorgen werden in der Aussegnungshalle des Münchner Nordfriedhofs die Leichen von zwei jungen Frauen gefunden. Sie liegen eng umschlungen und fast schon liebevoll arrangiert in einem offenen Sarg. Es sah aus als schliefen sie friedvoll. Lediglich die kurzen, blutgetränkten weißen Leichenhemdchen passten so gar nicht ins Bild. Alles deutet auf einen Ritualmord eines Psychopathen hin. Da fremde DNA- sowie frische Spermaspuren an den Frauenleichen gefunden werden, sieht alles nach einem relativ einfachen Routinefall für Anne von Feldhaus und Jacob Fuller aus. Doch dann passiert einige Tage später etwas, das eigentlich nicht passieren kann und sie sehen sich einem Gegner gegenüber, den es in Wirklichkeit gar nicht geben kann.
Telefonat ... San Francisco mit Genf ... 26. Dezember 2017
>>Hör zu, Professor, sollte dein Liebling noch mal in irgendeinem Casino auf dieser Welt auftauchen, werden wir ihn aus dem Verkehr ziehen. Ich habe dich gewarnt. Sag mal, wie blöd ist der eigentlich?<<
>>Was ist denn schon wieder passiert? Er hat mir versprochen, nicht mehr zu zocken. Das muss eine Verwechslung sein. Lasst ihr ihn beschatten oder was?<<
>>Wir beschatten ihn nicht, wir wissen nur immer gern, was unsere Schäfchen tun. Im Gegensatz zu dir. Du hast sie ja anscheinend nicht im Griff. Er war vor zwei Tagen in San Remo.<<
>>Ja und?<<
>>Nichts ja und. Das übliche Spiel. Wenn er wenigsten unauffällig spielen würde, ein bisschen Gewinn einstreichen und dann verschwinden. Aber nein, er muss jedes Mal eine Riesenshow abziehen.<<
>>Was heißt Riesenshow?<<
>>Zuletzt hat er am Blackjack-Tisch auf sechs Feldern gleichzeitig gespielt, immer mit Höchsteinsatz, und mindestens zwanzig Leute haben auf seinen Feldern mitgespielt. Es ging zu wie auf einem Jahrmarkt. Die Italiener waren begeistert. Nach einer halben Stunde haben sie den Tisch geschlossen und ihn unauffällig gebeten, das Casino
zu verlassen. Zumindest geht er immer ohne großes Tohuwabohu.<<
>>Sagtest du nicht, er hat mittlerweile in allen Casinos Spielverbot?<<
>>In den USA ja, das haben wir veranlasst und im Griff. Das funktioniert auch wunderbar. Aber die Europäer sind da nicht ganz so aufgeschlossen unseren Argumenten gegenüber.<<
>>Okay. Ich rede noch mal mit ihm.<<
>>Nicht reden. Tu was, und zwar das Richtige, sonst tu ich was, und das wird dir nicht gefallen.<<
>>Jaja, okay. Mach ich.<<
>>Warum spielt der Idiot denn überhaupt? Er hat doch alles, was er braucht. Was will er denn damit bezwecken, oder will er irgendjemand irgendetwas beweisen? Es geht ihm doch nicht ums Geld, oder? Wenn er eine Million will, dann sag ihm, ich überweise ihm morgen eine Million.<<
>>Nun ja, er nutzt halt seine Fähigkeiten, mit denen wir ihn ausgestattet haben. Das sind nun mal die kleinen side effects.<<
>>Ein bisschen viele side effects, findest du nicht?<<
>>Wieso viele?<<
>>Denk an die TV-Show im Frühjahr. Welcher Teufel hat ihn da geritten zu behaupten, er würde jede mathematische Gleichung schneller lösen als dieser Faltings?<<
>>Er konnte es ja auch, oder?<<
>>Natürlich konnte er es, das wissen wir ja, aber verdammt noch mal, dieser Faltings ist Träger der Fields-Medaille. Muss ich dir jetzt erklären, was das bedeutet? Noch mal zum Mitschreiben, wir brauchen, nein wir wollen keine Publicity! Kümmere dich um ihn, sonst mache ich es. Das nächste Mal rufe ich dich nicht mehr vorher an, mein Lieber, sondern nachher.<<
>>Okay. Ich habe schon verstanden, du brauchst mir nicht zu drohen.<<
München ... 31. Dezember 2017, 19:00 Uhr
Der schrille Klingelton seines Handys riss ihn aus seinem tranceähnlichen Schlaf. Binnen eines Wimpernschlags saß er aufrecht auf seiner Couch. Mit noch schläfrigem, aber starrem Blick scannte er die Umgebung nach seinem Handy ab. Es lag am Boden vor seiner Couch, mit dem Display nach unten. Er griff danach und drückte, ohne auf das Display zu sehen, auf Annahme.
>>Hi, Oliver.<<
>>Marie, was gibt´s?<< Maries Stimme war unverkennbar. Sie hatte einen einnehmend weichen Tonfall und hörte sich an wie die Stimme einer Zwölfjährigen, was trotz ihres noch jugendlichen Alters von dreiundzwanzig recht ungewöhnlich war.
>>Ich wollte dich nur noch mal an unsere Silvester-Party heute Abend erinnern. Ich weiß ja, dass du so etwas gerne mal vergisst.<< Marie wusste natürlich, dass er nie etwas vergaß, ebenso wie sie wusste, dass er solche Partys hasste. Inszenierte Aktionen dümmlicher Menschen, die alle nur erdenklichen gesellschaftlichen Konventionen Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr erfüllten.
>>Nein. Nein. Ich habe es nicht vergessen, aber ich komme nicht mit. Mir geht es nicht gut. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Ich werde den Jahreswechsel wohl im Bett verbringen.<<
>>Mensch, Oliver. Komm. Keine Ausreden. Ich weiß ja, dass solche Massenfeiern nicht unbedingt dein Ding sind, aber hin und wieder kannst du ja mal eine Ausnahme machen. Mir zuliebe. Ist ein toller Club mit tollen Leuten. Du wirst deinen Spaß haben, und lauter heiße Mädels sind auch da.<< Nun war Oliver durchaus jemand, der gern und oft unterwegs war, aber meist, nein eigentlich fast immer, nur alleine. Er liebte zwar die Gesellschaft anderer Menschen, aber meist nur dann, wenn er diese nicht kannte. Das Unbekannte faszinierte ihn. Er konnte sie stundenlang beobachten, ohne die lästige Pflicht eines Smalltalks. Mit Marie war das etwas anderes. Sie waren seit zwei Jahren Kollegen bei GooMic, und obwohl sie an völlig unterschiedlichen Projekten arbeiteten, waren sie sich, trotz aller Unterschiede, doch irgendwie sehr ähnlich. Marie war zwar nicht das typische Partygirl, sie war eher hypersensibel, aber sie war gerne auch mal unterwegs, um abzuschalten, wie sie immer grinsend bemerkte. Wie dieses Abschalten im Detail aussah, wusste er nicht. Jedes Mal, wenn er sie darauf ansprach, lächelte sie nur und meinte: >>Komm halt einfach mal mit!<< Er kam nie mit. Marie war sehr attraktiv, nicht besonders groß, so eins fünfundsechzig, hatte einen Body wie aus dem Lehrbuch, nicht zuletzt durch ihren schon fast pathologischen Zwang zu sportlicher Betätigung. Es gab so gut wie keine Sportart, die sie nicht schon ausprobiert hätte. Sie schien ein Multitalent zu sein. Egal wie verschieden die jeweiligen Sportarten auch waren, sie fand immer sofort den richtigen Zugang. Etwas strange war ihre Passion für Tattoos. Sie hatte eine Menge davon, alle relativ klein und zum Teil ziemlich verstörend, und alle an im Normalfall nicht sichtbaren Stellen. Einige davon hatte sie ihm schon unaufgefordert gezeigt. Vielleicht wollte sie ihn testen oder anmachen. Er sagte immer nur >>schön<<, was sie jedoch noch mehr dazu animierte, sie ihm zu zeigen. Es war wie ein Spiel zwischen ihnen, bei dem keiner wusste, wie es enden würde. Meistens kleidete sie sich noch wie ein Teenager und sah dann auch aus wie höchstens siebzehn. Bei GooMic sah man darüber hinweg. Es war denen wohl egal, solange sie ihren Job machte, und aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten im IT-Bereich hatte sie wohl eine gewisse Narrenfreiheit, was alles andere betraf. Die Männer mussten ihr eigentlich zu Füßen liegen. Er hatte sie jedoch noch nie mit einem Mann gesehen. Auf seine diesbezüglichen Fragen wich sie immer nur aus. >>Du willst mich ja nicht<<, erwiderte sie meist lächelnd. Letztendlich war es ihm jedoch egal, denn obwohl er sie ziemlich geil fand, kam er nie auf die Idee, sie mal richtig anzumachen. Hin und wieder ein paar erotische Flirts, das war es aber dann schon. Irgendetwas hielt ihn davon ab, weiterzugehen. Er wusste nicht, was es war. Aber es war etwas da, tief in seinem Innersten, das ihn daran hinderte. Mittlerweile dachte er auch nicht mehr groß darüber nach. Es war gut so. Sie verstanden sich ansonsten blendend, und das genügte ihm. Mit seinen fünfundzwanzig hatte er zwar diesen permanenten Drang der Jugend, aber nicht den Drang nach einer klassischen Beziehung, nach Familie mit Kindern oder sonst was in der Art. Er liebte seinen Job und seine Unabhängigkeit. Und da auch er, wie Marie, mit einem klassischen blendenden Aussehen gesegnet war, einen Meter fünfundachtzig groß, schon fast auffällig ebenmäßiges Gesicht, kurzes dunkelbraunes Haar, normal schlanke Figur und zu allem Überfluss noch stahlblaue Augen, hatte er bei den Mädels und Frauen nie wirklich Probleme. Im Gegenteil, seine distanzierte, nahe an Arroganz heranreichende Art schien ihn meist nur noch interessanter zu machen. Er nutzte dies jedoch nie wirklich aus. Er ließ die Dinge einfach geschehen. Wenn etwas passierte, war es gut, wenn nicht, war es auch gut. Er genügte sich meist selbst.
>>Marie, nicht böse sein. Mir geht es wirklich nicht gut und ich habe echt keinen Bock auf Unterhaltung.<<
>>Du gehst doch nicht wieder heimlich zocken, oder?<<
>>Nein. Quatsch. Außerdem habe ich doch in allen Casinos mittlerweile Hausverbot.<<
>>Was nichts zu bedeuten hat.<<
>>Lass uns morgen mal treffen, irgendwann am frühen Abend oder so, sofern du nach deiner Silvester-Party dazu noch in der Lage bist.<<
>>Sehr witzig. Okay, wer nicht will, der hat schon. Mach keinen Scheiß, Oliver. Ich melde mich. Ciao.<< Ohne seine Antwort abzuwarten, beendete sie das Telefonat. Oliver warf sein Handy auf die Couch und sah sich nach etwas zu trinken um. Er hatte seit einigen Monaten ständig Durst und trank meist bis zu sechs oder sieben Liter Wasser täglich. Er hatte aufgehört zu zählen. Da er nichts Trinkbares im Wohnzimmer fand, stand er auf und ging ins Bad. Er drehte den Wasserhahn auf und stillte seinen Durst mit kaltem Leitungswasser. Dann zog er sich aus und stellte sich unter die Dusche. Er duschte meist ziemlich kalt. Er liebte kaltes Wasser. Es ließ ihn seinen Körper spüren. Manchmal blieb er so lange unter der Dusche, bis er anfing zu zittern. Heute nicht. Er musste sich noch vorbereiten. Konzentration ist die halbe Miete, sagte er immer zu sich selbst, bevor er loszog. Er griff nach einem Badetuch und trocknete sich ab, warf es über die Toilettenschüssel und ging zurück ins Wohnzimmer. Seine Wohnung war nicht sonderlich groß. Zwei Zimmer, circa 55 Quadratmeter. Ein typischer Altbau, einer der wenigen in München, die noch nicht luxuskaputtsaniert waren. Aber alles da, was man brauchte, und alles funktionierte einwandfrei. Sie hatte noch diesen echten Münchner Altbau-Charme. Und sie war fast schon unverschämt teuer aufgrund der Lage. Kaulbachstraße, Altschwabing, eine der besten und gefragtesten Lagen in München, ein Katzensprung in den Englischen Garten und fußläufig in die City, perfekte Infrastruktur, U-Bahn-Nähe und so weiter. 1.490 Euro kalt für 55 Quadratmeter, das war schon eine Ansage, aber das war ihm egal. Die Wohnung bezahlte GooMic, ebenso wie sein Auto, einen Alfa Romeo Giulia Veloce, den er aber fast nie benutzte. Er hatte ihn sich nur ausgesucht, weil er ihm gefiel. Er fuhr fast immer nur Taxi, auch das bezahlten sie anstandslos. Wenn nicht, hätte er all das auch selbst bezahlen können, er verdiente extrem gut für sein Alter, und Geld war ihm ziemlich egal. Er hatte keinen wirklichen Bezug dazu. Es war immer alles da, was er brauchte. Er blickte auf sein Handy. Es war kurz nach acht. Mit beiden Händen fuhr er sich durch seine noch feuchten Haare und begann, seine Schläfen zu massieren. Seit einiger Zeit hatte er immer wieder mal einen stechenden Schmerz im Kopf. Nichts Weltbewegendes, aber einfach unangenehm. Die leichte Massage der Schläfen brachte auch nie wirklich eine Verbesserung. Phantomschmerz, dachte er sich oft, maß dem Ganzen aber keine weitere Bedeutung zu, da der Schmerz, so plötzlich er kam auch wieder verschwand. Er lief ins Bad und schmiss sich zwei 800er Ibuprofen ein. Heute musste er hundertprozentig fit sein und vor allem einen klaren Kopf haben.
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